DER TAPPEINERWEG#
1913: Eines der schönsten Gebiete der Österr.-ung.-Monarchie ist Südtirol mit seiner zauberhaften Kurstadt Meran gewesen, wo sich Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth oft und mit Vorliebe aufgehalten, sowie die kaiserliche Verwandtschaft hier gern gesehene Besucher waren. Doch es sollte das letzte Friedensjahr sein, denn ein Jahr später brach der Erste Weltkrieg aus und beendete eine Epoche die der Vergangenheit ab nun angehörte.
Begeben wir uns auf den ästhetisch schönen Tappeinerweg der weder Anfang noch Ende hat und nach dem Arzt, Botaniker, Anthropologen Franz Tappeiner benannt wurde. Viele der geschichtlichen Entwicklung des Weges Urkundige möchten ihn schon von den riesigen Zedern nächst der Wassermauer herleiten. Dort erhebt sich die Kurpromenade über der an ihr gemauertes Bett gefesselten wilden Passer zur Höhe des „Steinernen Steges“, der mit einem einzigen gewaltigen Satz das romantische Felsental überspringt und das eigensinnige Obermais unweigerlich mit der hingebenden Bundesgenossin, der vielgeprüften ehemaligen Landeshauptstadt, der heutigen „Perle von Tirol“ kopuliert. Seiner Solidität wegen wird der altersgraue Bogen den römischen Ewigkeitsbaumeistern zugerechnet. Die rauhen Römer werden gewiss nicht die menschenfreundliche Absicht gehabt haben, ihr Castrum Majense den lungernden Barbaren zugänglich zu machen. Auch waren sie, ihre Götter wissen es mehr Nützlichkeits- als Schönheitsfanatiker, und sie ahnten so wenig etwas von einem Tappeinerweg wie von dem wunderbaren Bild der über der Gilf thronenden stolzen Zenoburg, das sich heute im natürlichen Rahmen des gewölbten Rundes den Blicken des überraschten Talwanderers darbietet.
Der hängende Zaubergarten der „Gilf“, wie die Klamm des den Berg durchbrechenden Passeier Wassers genannt wird, empfängt uns mit seinen Tausenden von fremdländischen Edelhölzern, Stauden und Gewächsen, die im Boden des sonnigen deutschen Südens heimisch geworden sind. Über die Lehnen des mit Humus kultivierten Berges liegt ein schimmernder Blumenteppich hingebreitet, die nackten Felswände sind mit dem Immergrün unverwelklicher Blattpflanzen bekleidet, überall verschwindet das eiserne Geländer unter dem Geranke der Rosen und dem üppig wuchernden Gehänge des vielgestaltigen Efeus. Wellingtonien und Zedern, Zypressen und Brotbäume, Pinien und Lorbeeren ragen dunkel aus dem hellen, in den bunten Farben des Herbstes leuchtenden Laub des Waldes hervor, und um grünes, von Goldfischen durchblitztes Gewässer flüstert das Bambusrohr und sträubt sich wie das Gefieder eines Raubvogels.
Laue, durch die feuchte Kühle der dämmerigen Schlucht und die Frische herab wehender Höhenlüfte temperierte Duftwellen umfließen und schaukeln unsere Sinne, wir fühlen uns gehoben und geschoben, als säßen wir in dem an Drahtseilen laufenden Wagen einer Schwebebahn oder würden von der geheimnisvollen Kraft eines Perron roulant befördert, ohne etwas von dem beklemmenden Gefühl zu empfinden, das solche Teufelskünste moderner Technik erregen. In langen, nur bei den Kreuz- und Wendepunkten bescheiden an die Besteigung eines geneigten Hügels erinnernden Kehren tragen uns die Terrassen dieses Bergparadieses empor, und bei jeder neuen Biegung erweitert sich der Horizont des stufenweise immer malerischer sich entfaltenden Landschaftsbildes. Nähe und Ferne reichen einander die Hand. Bald blicken die frisch angeschneiten Häupter des Ifinger und Hirzer auf uns nieder, als wollten sie jedermann warnen dem Frieden ihrer Hochtäler zu trauen. Noch immer sind diese finsteren Kolosse Feinde des Menschen, lohnen die Annäherungsversuche waghalsiger Kletterer mit böser Liebe und senden ihre Steinlawinen in die blühenden Kulturen hinab. Die Tage, in denen es uns gelüstete, mit ihnen und ihresgleichen persönlich anzubinden, sind längst vorüber. Keine Hindernisse mehr, die genommen werden müssten, dienen sie uns nur noch als prächtige Dekorationsstücke. Auch die hinter dem Ultental hervor lugenden weiße Laugenspitze erweckt unseren Touristenehrgeiz nicht, und wenn in der blauen Ferne die Mendel ihre majestätische Nase gar so hochmütig herausfordernd nach oben streckt, so können wir ihr einen Stüber darauf geben, indem wir sie mit Zahnrad und Seil befahren. Auch von Lana aus führt seit kurzem eine Schwebebahn am Marlingerberg hinauf; sie verwandelt den beschwerlichen Aufstieg zum Vigiljoch in eine Luft- und Lustreise und erschließt die herrlichste Fernsicht auf die Dolomiten. Die Porphyrabhänge des Haflinger Bodens zur Linken und die sich an den Marlinger Berg reihenden Waldhöhen zur Rechten bilden die Kulissen zu dem heiteren Theater des weiten Etschtales. Das Kirchlein „St. Kathrein in der Scharte“ scheint wie zur Augenweide dort oben hingebaut, und wer Glück hat, kann es bei günstiger Konstellation in der goldenen Scheibe des vollen Mondes erblicken, so dass es einer Doré Märchenillustration gleicht.
Weiter und weiter dehnt sich das entzückende Rund. Auf Reben- und Kastanienhügeln treten die Schlösser Lebenberg, Goyen, Planta, Fragsburg und Labers – vergesslichen Angedenkens! - hervor, als lugten die Geister ihrer Herren nach fröhlichen Gästen aus, die von altersher bis auf unsere Tage gern bei ihnen einkehrten um sich wohl sein zu lassen bei Rametzer Burgunder, Goyener Riesling, goldenem Terlaner und granatroten Magdalener Wein, unter Spiel und Sang in ernst- und scherzhaftem Gespräch mit Gelehrten, Künstlern und schönen Frauen.
Ohne Gilf hätte es keinen Tappeinerweg gegeben. Der Gedanke, aus der Passerschlucht etwas Gemeinnütziges, Menschenwürdiges heraus zu holen, tauchte schon 1870 auf und warf wunderliche Blasen in den Köpfender Meraner Stadtväter, ehe er seine spätere konsistente h Gestalt gewann. Badeanstalt, Weingarten und Wildpark lösten einander in der Idee ab; allmählich aber wurde das Utilitätsprinzip von der Gangbarmachung des wilden Felsentales glücklich ausgeschlossen. Seit 1885 besitzt die Gilfpromenade ihr eisernes Gitter, das sie bei nächtlicher Weile vor dem Einbruch wüster Gesellen schützt, und dieser Schutz ist das Symbol ihrer inneren und äußeren Vollendung. Fortan werden Hunde an der Leine geführt und Damen bedeutet, keinen Staub mit ihren Schleppen aufzuwirbeln. Das zweite Verbot ist, dank der neuen Kleidermode, hinfällig geworden.
Die Staffage der wunderbaren Landschaft lässt leider manchmal manches zu wünschen übrig. Wie himmlisch wäre es, unter dem Feigenbaum am Pulverturm unangefochten in göttlicher Ruhe über Stadt und Land, Tal und Berge hinauszuschauen bis ihn selige Träume unerreichbare Fernen!
Unversehens sind wir, nachdem wir die nach Tirol führende Kaiserstraße überschritten und das viel besuchte Café Ortenstein passiert haben, mitten auf dem Tappeinerweg angelangt. Alles Bisherige war nur das notwendige Präambulum, die freundliche Voraussetzung des schönen Weges. Nun gehen wir auf ebener Bahn zwischen den gesegneten Rebenlauben des Küchelberges weiter: sie gleichen von weitem einer viel stufigen, grünen Treppe, und diese ist „seit Noah aus dem Kasten kam“, trotz alldem die wahre Himmelsleiter geblieben. Aber auch ohne gütige Nachhilfe des feurigen Rebenblutes geraten wir in einem Rausch und Taumel seligen Entzückens bei dem Anblick des unvergleichlichen Panoramas, das anzuschauen wir uns begnadet fühlen. Ist es die traulich anheimelnde alte Stadt unter unseren Füßen, das krause Gewinkel ihrer hoch giebeligen, mit rostroten Ziegeldächern gedeckten und mit vorspringenden Erkern armierten Häuser, sind es die von den zerklüfteten Höhen herüber winkenden Türme und Zinnen all der Burgen und Schlösser, sind es die blanken, über das Mittelgebirge hingestreuten Flecken und Dörfer mit ihren stattlichen Höfen und Kirchen, die smaragdgrünen Wiesen, Gärten und Felder der drei vor Schloss Tirol zusammen stoßenden Täler und Verkehrslinien, die Silberschlangenwindungen der Ströme und Bäche, oder ist es der kühn geschwungene Zug des scharf zackigen, gipfel- und gratreichen, wie aus goldbrauner Bronze gegossenen Hochgebirges, das all die Pracht und Herrlichkeit einfriedet, was unser Herz gefangen nimmt und unsere Sinne berückt? Diesen erlebnisreichen Weg haben wir einem Mann zu verdanken, der inmitten der Anlage, die er aus eigenen Mitteln zum Trost der Kranken, zur Kräftigung der Genesenden und zur Freude der Gesunden geschaffen hat, erhebt sich seit 1898 das wohlgetoffene Bild Franz Tappeiners im heimischem Laaser Marmor. Das dankbare Meran hat es dem menschenfreundlichsten aller Kurärzte errichtet, der noch über das Grab hinaus für das Wohl der Leidenden sorgte, und die in der Granitnische des Marmoraufbaues eingemauerte Votivplatte mit der Inschrift: „Dort wo der Väter Treue sich geoffenbart, dort liegt der Söhne großes Erbe aufbewahrt.“ und ist keine leere Redensart geblieben.
Die Rotunde des Denkmals liegt nahe an den mit dem Blute der Freiheitshelden von 1809 geweihten Stätten, und Söhne und Enkel beeiferten sich, in friedlicheren Zeiten ihr dort aufbewahrtes Doppelerbe würdig anzutreten. Nach dem Tod Tappeiners ist sein Weg weit über die zur landesfürstlichen Burg niedersteigenden Serpentinen der hinaus auf der dem Vinschgau zugewandten Seite des Küchelberges verlängert worden, und dieser kostspielige und viele Interessenten in Mitleidenschaft ziehende Weiterbau ist noch lange nicht zu Ende geführt. Denn nichts geringeres wird geplant, als die erst im Jahr 1911 fertig gewordene großartige „König Laurin Höhenstraße“, einen breiten Fahrdamm, der über Gratsch und Wessobrunn den Höhen von St. Peter und Tirol zustrebt, mit dem Tappeinerweg zu verbinden. Und das Märchen vom Zwergenkönig Laurin wird dabei seine eigene Dichtung und Erfüllung finden. Max Kalbeck
QUELLE:Österr. Alpenpost1913, Ausgaben Seite 5, ANNO Österreichische Nationalbibliothek, Bildmaterial I.Ch. Graupp
HINWEIS: Kaiserin Elisabeth Haus
https://austria-forum.org/af/User/Graupp Ingrid-Charlotte/DER_TAPPEINERWEG