DER WELFENSCHATZ#
1924: Mit dem im Vorjahr in Gmunden erfolgten Ablebens des Herzogs Ernst August von Cumberland, Herzogs von Braunschweig und Lüneburg, hat die „Welfenfrage“ nicht aufgehört. Sie betrifft erstens die unermesslichen Reichtümer der unter dem Namen „Welfenschatz“ bekannten Zimelien deutscher mittelalterlicher Goldschmiedekunst des Hauses Braunschweig-Lüneburg, die im Jahr 1906 aus dem Österreichischen Museum in das Cumberland Schloss nach Wien-Penzing übertragen worden waren.
Die berühmte Cumberland Silberkammer, die als die bedeutendste Silbersammlung der Welt gilt, mit Kunstarbeiten der ersten Meister Englands, Frankreichs, der deutschen Renaissancekunst in Nürnberg, Augsburg, Hannover und Osnabrück, aus der Zeit von 1560 bis 1580 und in einem nach mehreren Billionen geschätzten Wert.
Der geistliche Welfenschatz, dem die bekannte Monographie von Professor Wilhelm Neumann gewidmet ist, enthält die Prachtstücke rheinischer und niedersächsischer Kunst, die im Österreichischen Museum der allgemeinen Besichtigung zugänglich waren. Die hervorragendsten Objekte der Silberkammer waren in der Wiener Goldschmiedeausstellung des Jahres 1889 zu sehen. Noch vor dem Krieg wurde der geistliche und weltliche Welfenschatz in das Cumberland Schloss nach Gmunden überführt, wo er seither verblieben ist. In den ersten Tagen nach dem Umsturz versuchen Gewalttäter, in das Schloss einzudringen, da sie Nahrungsmittel, insbesondere Würste, Schweinefleisch usw. in den Stahltresors vermuteten. Es gelang, diese Elemente zu beruhigen und vom Raub abzuhalten, da man sie überzeugen konnte, dass es sich in den Schlossbeständen um Kunstgegenstände handle.
In der ersten Hälfte des Vorjahres tauchten immer wieder Gerüchte über einen beabsichtigten Verkauf des sogenannten Welfenschatzes auf, nachdem sowohl die Reliquiensammlung wie die Silberkammer vom Bundesdenkmalamt auf und des Gesetzes vom 25. Jänner 1923 unter staatliche Aufsicht gestellt und die Veräußerung und Belastung an die vorherige Zustimmung des Bundesdenkmalamtes gebunden worden waren. Die herzogliche Vertretung machte zunächst die Exterritorialität geltend. Wenn auch diesem Einwand mit dem Hinweis darauf begegnet werden konnte, dass nach republikanischen Gesetz die Exterritorialität sich auf die Häupter regierender Häuser und akkreditierter Diplomaten beschränke, blieb der Braunschweig-lüneburgische Rekurs dem Vernehmen nach nicht ohne Wirkung.
Immerhin gelang dem Bundesdenkmalamt, das auch eine fachmännische Inventarisierung der gesamten Bestände an Ort und Stelle veranlasst hatte, die Anerkennung der Verfügung, dass der historische,eine geschlossene Einheit darstellende Reliquienschatz in seinem ganzen Umfang erhalten werden müsse und auch die hervorragenden Objekte der Silberkammer dem österreichischen Kunstbesitz zu erhalten sind. Auch die Verhandlungen wegen einer zeitweiligen öffentlichen Besichtigung des Reliquienschatzes und Zulassung von wissenschaftlichen und künstlerischen Interessenten zum Studium hatten fürs erste Erfolg.
Es hat jedoch den Anschein, als ob die Braunschweig-lüneburgische Vermögensverwaltung sowohl den geistlichen,wie den weltlichen Welfenschatz von der Sperre befreien und die freie Verfügung über denselben durchsetzen will, die selbst zur Transferierung der als geschlossenen Sammlung erklärten Zimelien ins Ausland führen könnte. Gegenwärtig kann als absolut sicher festgestellt werden, dass der Reliquienschatz im Gmundner Schloss verwahrt ist, und dass aus der Silberkammer wie auch sonst aus dem Besitz Objekte verkauft sind. So wurden bereits zu Lebzeiten des alten Herzogs, der bekanntlich auch das Penzinger Schloss veräußerte, Gobelins, prachtvolle Porzellanservices, auch einzelne Stücke aus der Silberkammer verkauft, dauert unter der Witwe Herzogin Thyra fort.
Über das Schicksal der Reliquiensammlung als des eigentlichen „Welfenschatzes“ wird die Entscheidung, für die auch auswärtige Regierungen Anteilnahme zeigen sollen, abzuwarten sein.
Der Welfenschatz wurde 1930 an ein deutsch-englisches Konsortium um 12 Millionen Mark verkauft.
QUELLE: Neues Wiener Tagblatt, 16.Jänner 1924, S 7, Bild Wiener Bilder, ANNO Österreichische Nationalbibliothek
https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Essays/Historisches_von_Graupp