DIE BRENNNESSEL#

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Brennnessel

1915: Da durch die Verhinderung der Baumwollzufuhr seitens der Engländer die für die Munitionserzeugung sehr wichtige Baumwolle bei uns zu einem besonders begehrten Artikel geworden ist, ist unsere Textilindustrie genötigt, sich so schnell als möglich nach einem Ersatzstoff umzusehen, und zwar nach einem, der nicht aus fremden Ländern eingeführt zu werden braucht, sondern im Land selbst wächst, und das ist die sonst als Unkraut so verachtete und wegen ihres scharfen, brennenden Saftes so gefürchtete Brennnessel.

Wohl selten sind die guten Eigenschaften einer Pflanze so mit Undank behandelt worden, wie die der Brennnessel sie zwar in ihren Brennhaaren einen Stoff besitzt, der jede Berührung der Pflanze mit der Haut äußerst schmerzhaft macht, die aber trotzdem als geschätztes Viehfutter dient und als junge Pflanze auch als Spinat Gemüse verwendet werden kann. Die größte Bedeutung hat aber die Nessel als Gespinstpflanze, denn ihr langer, harter Stängel enthält eine große Anzahl feiner, seidenglänzender Fasern, die sich ganz vorzüglich zur Herstellung von Geweben verarbeiten lassen. Die Kultur der Brennnessel zu diesem Zweck ist uralt. Schon von Nestorius erzählt im IX. Jahrhundert von prächtigen Gewändern aus Nesseltuch, deren Glanz und Feinheit er außerordentlich rühmt. Aber nicht nur Kleiderstoffe wurden aus Nesselfasern angefertigt, sondern auch Schiffstaue und Segel, die wegen ihrer großen Haltbarkeit und Zähigkeit sehr geschätzt waren. Von der Bedeutung der früher überall verbreitete Brennnessel zeugt es, dass sich die Sage der Entstehung ihrer Kultur bemächtigt hat. Sie berichtet: „Ein böser Vormund wollte das Glück seines Mündels nicht eher krönen, als bis sie aus einem am Wege stehenden Unkraut, er deutete auf die Brennnessel, sich ihr Brautkleid selbst gesponnen und gewebt habe. Die Arme eilte mit schwerem Herzen in ihr Kämmerlein, betete zu Gott und bat ihm um Hilfe. Da öffnete sich ihr im Traum der Himmel und zwei Engel schwebten zu der Schlafenden hernieder, nahmen sie bei der Hand und geleiteten sie zu dem verhängnisvollen Nesselstrauch. Hier unterwiesen sie die Maid, dass sie, solange der Tau auf der Pflanze liege, dieselbe ungefährdet ernten könne, zeigten ihr, welche wunderbaren Fasern der Stängel in sich birgt und lehrten sie diese Fasern spinnen, weben und bleichen und sich daraus ihr Brautkleid fertigen. Als das Mädchen erwachte, dankte sie aus tiefstem Herzensgrund, ging sofort ans Werk und vollendete es bald.

Als die blendend weiße und billige Baumwolle in großen Mengen aus den überseeischen Ländern zu uns kam, verschwand die Kultur der Nessel und die Bearbeitung ihrer Fasern sehr rasch, nur die Nesselzwirnfabriken hielten sich noch längere Zeit, bis im Jahr 1720 auch die letzte in Leipzig mit ihrem Betrieb aufhörte. Nun soll in unserer Zeit die Brennnessel wieder zu Ehren kommen, deren Gewebe völlig verschwunden waren, denn wenn man bisher auch immer noch sogenannte Nesseltuch kaufen konnte, so waren diese doch ebenfalls aus Baumwolle hergestellt. Die deutschen Behörden unterstützen die Wiederaufnahme der alten deutschen Kultur und Industrie in jeder Weise, so dass schon vor einiger Zeit eine amerikanische Fachzeitschrift schrieb;

„Seit einiger Zeit sind in Deutschland Versuche im Gange, die Nessel als Ersatz für Baumwolle zu verwerten. Bisher hat man diese Industrie in Deutschland nur langsam Fortschritte gemacht, weil die erste Behandlung der Pflanzenfasern den Landleuten überlassen blieb, die diese Behandlung in primitivster Weise ausführten. Mit Beihilfe der Regierung wird aber der Anbau der Nessel für den Landmann äußerst lohnend werden, da er die Pflanzen sofort an die Fabrik abliefern wird. Die Entwicklung dieser deutschen Industrie wird bei uns in Amerika schwer empfunden werden wegen der notwendig sich daraus ergebenden Verminderung unseres Baumwollbaues. Verschiedene Berichte beweisen, dass die Angelegenheit über das Stadium der Versuche hinaus ist. Schon gehen die landwirtschaftlichen Behörden Anweisungen über Bodenbeschaffenheit, Düngung und Samen.“ Dr. L. St.

In der Österr. Forst Zeitung 1918 befasst man sich gleichfalls mit der Brennnessel: „Es wäre in Wahrheit eine Befreiung unserer Volkswirtschaft, wenn es gelänge, eine bei uns heimische Pflanzenfaser zu finden, welche die Baumwolle als Spinnstoff ersetzen könnte. Wir bezogen in der letzten Zeit vor dem Weltkrieg jährlich mehr als zwei Millionen Meterzentner (200 Millionen kg) Rohbaumwolle aus dem Ausland, größtenteils aus den Vereinigten Staaten, und hatten dafür über 300 Millionen Kronen zu bezahlen. Die Abhängigkeit Österreichs von Amerika wurde schon im Frieden unangenehm empfunden, da die Produktion der nordamerikanischen Staaten mit dem Weltbedarf nicht Schritt hält, und Österreich-Ungar infolgedessen immer stärker dem amerikanischen Preisdiktat und allen Umtrieben der amerikanischen Spekulation ausgesetzt war. Während des Weltkrieges war unsere Abhängigkeit noch fühlbarer, da wir uns überhaupt auf regulärem Weg keine Baumwolle verschaffen konnten; aber auch wenn die Kriegsperiode vorüber sein wird, werden wir gleich anderen europäischen Staaten unter dem amerikanischen Monopol viel zu leiden haben. Denn jetzt sind in den Vereinigten Staaten zahlreiche neue Baumwollspinnereien entstanden, welche den Weltmarkt selbst zu versorgen wünschen; dadurch wird bei der durch natürliche oder künstliche Ursachen bewirkten Stagnation in der Erzeugung des Rohproduktes, die der europäischen Industrie zur Verfügung stehende Baumwollmenge stetig verringert, der Preis fortwährend verteuert, und letzten Endes dieser Entwicklung haben wir vielleicht mit einem Baumwollausfuhrverbot zu rechnen. Dagegen gibt es nur zwei Mittel: entweder muss man selbst Baumwolle produzieren, wie es England und in neuester Zeit schon Deutschland in ihren afrikanischem Kolonien. Rußland in Turkestan, versuchen, oder man muss probieren, ob nicht eine andere Textilfaser, die in unserem Klima in großer Menge gedeiht, die Baumwolle ersetzen kann. Dieser letzte Weg ist während des Krieges auch mit ziemlichem Erfolg betreten werden.

Die Idee, die Brennnessel, jetzt eines unserer verbreitetsten und lästigsten Garten- und Ackerunkraut, als Gespinstpflanze zu verwenden, ist uralt. Schon im Altertum kannte man Nesselgarn und Nesseltuch. Die Brennnessel blieb bis zum 18. Jahrhundert eine geachtete Nutzpflanze, sie blieb es, bis eine für sie böse Wettbewerberin auftauchte, die Baumwolle, Diese verschaffte sich rasch hohes Ansehen und verdrängte die deutsche Pflanze nach und nach ganz. Denn König Baumwolle . king cotton – nennen die Engländer diese wichtigste aller spinnbaren Fasern, die eine der bedeutendsten Waren des Welthandels darstellt. Bereits vor dem Krieg verdienten 15 bis 16 Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt mit der Pflege und Gewinnung der Baumwolle; etwa vier Fünftel der Menschheit kleiden sich in Baumwolle; die von dieser unschätzbaren Pflanze jährlich geschaffenen Werte belaufen sich auf 11 Millionen Mark, all das sind Zahlen, die die Berechtigung des Königstitels für die Baumwolle erkennen lassen. Es dürfte aber auch für den Fernstehenden von Interesse sein, einmal einiges darüber zu erfahren, wie sich dieser mächtige König die Welt eroberte und die Herrschaft über 1200 Millionen Menschen gewann.

Die Baumwolle wurde zuerst bei den alten Indern gepflegt. Im Sanskrit führt sie den Namen „kárpasi“ und wird bereits im 6. vorchristlichen Jahrhundert in der Sutras, den jüngsten Schriften der Veda, im Zusammenhang mit Gewändern erwähnt. Von Vorderindien verbreitete sich die Kultur der Baumwolle über Hinterindien nach China, wo als erster Kaiser Wuti wertvolle Baumwollkleider trug. Bald wurde sie im Reich der Mitte neben Hanf und Nessel zur Herstellung von Stoffen verwendet. Die erste Nachricht von der in Indien benutzten Baumwolle verdanken wir Herodot dem Vielreisenden. Die Baumwolle eroberte ein Land nach dem anderen.....

1918: Der Mangel an heimischen Gespinnstpflanzen zur Erzeugung von Leinen und anderen Stoffen erfordert die emsige Sammlung und den Anbau von Brennnesseln in ausgedehntem Maße. Erfreulicher Weise ist es nunmehr gelungen, durch einfaches Verfahren aus den Brennnesseln die brauchbarsten Fasern zur Erzeugung von Leinen, Herstellung von Baumwollstoffen usw., zu gewinnen, welche auch nach dem Krieg für unsere Spinnereien und Baumwollstoff Fabriken von großem Nutzen sein werden. Für uns Landwirte ist die Brennnessel noch dadurch sehr wertvoll, da sich der hohe Wert Brennnessel Rückstände als vorzügliches Kraftfuttermittel erwiesen hat. Betont sei im voraus, dass für den Anbau von Brennnesseln nicht in Frage kommen sollen solche Gebiete, die zur Zeit schon für den Nahrungs- und Futtermittelanbau oder auch für Flachs- und Hanfkultur in Anspruch genommen werden. Es finden sich in Steiermark Moorflächen, die wenigstens teilweise der Brennnesselanpflanzung dienstbar gemacht werden konnten. Wir haben ferner versumpftes Gelände, das jetzt vollkommen unnützt daliegt, und wir besitzen ferner an den Waldrändern parallel laufende Flächen, die wegen der Beschattung und durch Wildschaden bei kulturellem Anbau anderer Pflanzen nur einen sehr geringen Ertrag bringen. Es werden daher alle Landwirte, die nach den Verhältnissen ihrer Wirtschaft in der Lage sind, aufgefordert, sich freiwillig zum Anbau von Brennnesseln sofort beim Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften in Steiermark, Graz anzumelden. Um den Besitzern dieser Flächen hierzu die Hand zu bieten und ihr Interesse an dem Nesselbau zu wecken, ist der Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften bereit, den hierzu erforderlichen Samen unentgeltlich zu verabfolgen, Ernteverträge abzuschließen, in denen er sich verpflichtet, den gesamten Ertrag an getrockneten Nesselstängeln einschließlich Blättern zu einem guten Preis zu übernehmen. Unter diesen Umständen glaubt der Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften in Steiermark, bestimmt auf die Mithilfe der Landwirtschaft rechnen zu können und erwartet von dem betriebsamen Geist unserer Landwirte, dass sie sich des Brennnesselbaues im großen annehmen werden.

Der Bauernbündler nahm sich bereits 1916 dieses Themas an: „Wir haben der Brennnessel im Bauernbündler schon einmal ein Loblied gesungen. Die Brennnessel ist und bleibt aber eine für den Landwirt höchst wertvolle Futterpflanze, wenn sie auch heute noch in vielen Dörfern nur als Unkraut neben Zäunen und wüsten Plätzen wuchert. In Schweden baut man die Brennnessel als wertvolle Futterpflanze längst im großen an und auch in Deutschland geht man daran. Kühe, Ziegen, Schafe, auch das Geflügel fressen die Brennnessel , welche als eine der ersten Frühlingspflanzen in Trieb kommt, sehr gern. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten vielfach nur als wertloses Unkraut betrachtet und vernichtet. Dabei wurde sie früher auch als Gemüse sehr geschätzt, aber auch als wohlschmeckender Zusatz für Suppen, Knödeln, Gemüse und mancherlei Fleischgerichten. Die Pflanze wächst in mehreren Trieben weiter, blüht und gibt und einen Samen,von dem man sagen darf, dass er das wertvollste Geflügelfutter darstellt, das man kennt. Der proteinhaltige Stängel liefert ein höchst wertvolles Pferdefutter. Die Frucht dieser Pflanze soll in jedem Jahr restlos gesammelt werden. Einen Teil lege man für Saat Zwecke zur Seite, denn Orte die für andere Aussaat nicht taugen, der Brennnessel gern Raum geben.“

So hat der ungarische Ackerbauminister in der Nähe von Budapest Nesseln anbauen lassen. Wie Baron Ehrenfels berichtete, haben sich eine Reihe von Großgrundbesitzern bereit erklärt, auf großen Flächen von Ackerland den Anbau von Brennnesseln zu versuchen.

QUELLEN: Grazer Mittags Zeitung 13. Jänner 1916, S 3, 25. Jänner 1918, S 3, Österr. Forst Zeitung 22. März 1918, S 1, Drogisten Zeitung 15. November 1915, S 11, Bauernbündler 15. Februar 1916, S 4, ANNO Österreichische Nationalbibliothek, BILD: I.Ch. Graupp

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