DIE NELKE#

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Foto Graupp

1895: Die weiße Nelke scheint heute das Wahrzeichen von Wien geworden zu sein; mit stolz erhobenem Haupt verkündet Dr. Lueger, dass er der Herr der Reichshaupt- und Residenzstadt sei und dass auf seinem Wink die Massen sich in Bewegung setzen; prophetisch krächzen die Propheten des Herrn in ihren Blättern Unglück und Untergang, drohen sie mit Revolution und Umwälzung. Die weiße Nelke muss ins Wappenschild der Stadt Wien, denn Herr Dr. Lueger will es und was er will, das will auch das Volk von Wien. Volkes Stimme ist aber Gottes Stimme...

In diesem Augenblick, da die weiße Nelke so modern geworden, erscheint es vielleicht nicht ganz uninteressant, den Roman ihrer Schwester, der roten Nelke zu erzählen.

In Paris war die rote Nelke vor einigen Jahren die Königin des Tages. Sie prangte im Knopfloch des Aristokraten, sie zierte die Brust von so manchem Mitglied des Jockey-Klubs und des Clubs der Rue royale; der kleine Gewerbemann trug sie, der Arbeiter verschmähte auch die Modeblume nicht. Von den Kanzeln tönten Psalmen zur Ehre der roten Nelke herab; auf den reich geschmückten Tafeln der Vornehmen sah man in eleganten Vasen die rote Nelke stolz leuchten. Und als der Wahltag kam, der berühmte 27. Jänner 1889, da stimmte Reich und Arm, Hoch und Nieder für die rote Nelke, erklärten Hunderttausende von Pariser Bürgern diese Blume für das Wahrzeichen der Seinestadt.

Und heute? Verschwunden ist die rote Nelke, verloschen ihr Glanz. Verschollen der Name ihres Schutzpatrons, der Name des Generals Boulanger.

Der Wiener Boulangismus mag man mit Fug und Recht jene Bewegung nennen, welche heute einen großen Teil der Wiener Bevölkerung ergriffen und deren sichtbares Oberhaupt Herr Dr. Lueger ist. Die weiße Nelke spielt heute in Wien jene Rolle, welche vor einigen Jahren die rote Nelke in Paris gespielt, und die Ritter der weißen Nelke gehören denselben politischen Parteien an, aus denen sich die Legionen des französischen Generals rekrutierten.

Die Ultra-Chauvinisten waren die Ersten, welche in Scharen der roten Nelke zuströmten. So wie der Antisemitismus in Österreich ursprünglich die Erfindung der „Nur-Teutschen“ gewesen, ward der Boulangismus in Frankreich von den Gassenschreiern der Revanche in Szene gesetzt. Derouléde und seine Jünger feierten in Boulanger den Erwecker des nationalen Gedankens, priesen die boulangistische Bewegung als jene elementare Gewalt, welche den Sieg der roten Nelke über die blaue Kornblume herbeiführen müsste.

Bald aber stellte sich noch eine andere Partei in den Dienst des hoch verräterischen Generals. Die Klerikalen, oder vielmehr ein großer Teil der Klerikalen, glaubten, es sei jetzt ihre Stunde gekommen. Die Bewegung, welche das französische Volk erfasste und welche sich gegen alle bestehenden Einrichtungen und Gesetze richtete, konnte in das Bett des allein seligmachenden Klerikalismus geleitet werden. Hochgeborene Aristokraten traten mit Boulanger in Fühlung, Capläne und Cooperatoren wurden die eifrigsten Agenten des ehemaligen radikalen und demokratischen Generals. Boulanger zählte zu den Freiheitsaposteln und stand einst in den Reihen der Fortschrittskämpfer.

Die rote Nelke, welche anfangs ein Symbol des nationalen Konservatismus gewesen, begann bald eine revolutionäre Blume zu werden. Sowie der Luegerianismus allmählich eine umstürzlerische Bewegung geworden ist, nahm der Boulangismus eine revolutionären Charakter an. Die Beamtenschaft blieb von der Epidemie des Boulangismus nicht verschont, ebensowenig wie sich ein Teil der österreichischen Staatsfunktionäre vom Luegerianismus freizuhalten wusste. Alle unzufriedenen Elemente scharten sich um die rote Nelke. Boulanger ward der Gott der Unzufriedenen. Die Beamten erhofften von ihm eine Besserung ihrer Bezüge, die Kutscher eine Änderung der Fahrttaxe, die Kleingewerbetreibenden die Sperrung der großen Geschäftshäuser. Die Sprache der boulangistischen Organe ward von Tag zu Tag ernster und die offene Revolution wurde angedroht, als Boulanger seiner militärischen Würden beraubt wurde. Damals war Paris in ähnlicher Stimmung wie ein Teil von Wien, als Dr. Lueger die kaiserliche Bestätigung zur Bürgermeisterwürde versagt wurde. So wie heute Lueger-Organe den Grafen Badeni an das Schicksal des Grafen Latour erinnern, so wie heute ein Blatt es ausspricht, das 96 zweimal 48 sei: ebenso wurde damals Herr Carnot mehr als einmal durch Reminiszenzen an das Los Ludwig XVI., vor einem weiteren Vorgehen gegen Boulanger gewarnt, wurde der Straßenkampf, wurde die Revolution angekündigt. Und so wie das österreichische Abgeordnetenhaus zum Schauplatz lärmender Tumulte geworden ist, ebenso wie heute in Wien für die Ruhe und Sicherheit des Abgeordnetenhauses Sorge getragen werden muss: ebenso mussten in Paris Maßregeln getroffen werden, um die Volksvertretung vor den Insulten aufgeregter und verhetzter Massen zu schützen, musste man sich an der Seine darauf gefasst machen, dass die Helden der roten Nelke einmal in den Sitzungssaal der souveränen Kammer eindringen würden. Am 27. Jänner 1889 stimmten Hunderttausende von Parisern für Boulanger und ein Jahr später war der Boulangismus gewesen.

Er gleicht aufs Haar der Tragikomödie der weißen Nelke. Das Schicksal der roten Nelke mag ihrer Schwester als warnendes Beispiel dienen und Dr. Lueger möge an das traurige Los seines französischen Vorbildes denken!

QUELLE: Wiener Allgemeine Zeitung, 20. November 1895, S3. ANNO Österreichische Nationalbibliothek.

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