DIE BIRKE AUF DEM STEPHANSDOM#

Seit Jahren hatte sich eine Birke auf der Plattform des nicht ausgebauten Turmes ein außergewöhnliches Plätzchen ausgewählt. In dieser luftigen Höhe, mit der besonderen Aussicht auf das Wiener Häusermeer gedieh die Birke ganz wunderbar. Im Laufe der Jahre erreichte sie die respektable Höhe von nahezu drei Klaftern. Ihre Wurzeln gruben sich immer fester und tiefer in das Gestein und drohte dieses zu brechen. Die Birke war damit der höchst befindliche Baum Wiens.

Wiederholt wurde daran gedacht die Birke zu entfernen, doch als sie im Frühjahr wie alljährlich sich wieder im frischen Grün präsentierte, brachte man es nicht übers Herz sie von ihrer Aussichtswarte zu entfernen. Inzwischen war die Birke auf ihrem einsamen Standort längst zu einem Wahrzeichen Wiens geworden.

Doch im Jahr 1877 als man daranging auch diesen Teil des Domes zu restaurieren und die Arbeiten schon sehr weit fortgeschritten waren, sollte das für sie das Ende bedeuten. Sie sollte also ihren einmaligen Stammplatz räumen. Verschiedene Morgenblätter brachten nun mit seltener Übereinstimmung die Nachricht, dass der Baum bereits entfernt worden war. Doch wie staunten die Wiener als sie zufällig den Stephansplatz passierten, und ihre Blicke auf den Halbturm schweifen ließen und die Birke in all ihrer Pracht zu sehen bekamen. Das Ereignis von der Entfernung der Birke die der Dombaumeister Oberbaurat Schmidt angeordnet hatte, konnten sich die Wiener nicht entgehen lassen. Eine riesige Menschenmenge war auf dem Stephansplatz versammelt und harrten nun der Dinge. Vorsichtig wurde die Dombewohnerin in die Tiefe gehievt und von der Menge interessiert begutachtet, jetzt konnten sie erst ermessen wie groß und schön sie eigentlich war. Ihre neue Heimat sollte der Rathauspark werden. Sie wurde auf einer freien Wiesenfläche an dem linken Haupttrakte aufgestellt und bekam ein informatives Täfelchen. Sie hatte einen Durchmesser von fast acht Zoll, war also ein recht stattlicher Baum. Ihre Höhe betrug über zwei Klafter, sie wurde aber auf 1 ½ Klafter zurückgeschnitten. Obwohl bei der Entwurzelung mit sehr viel Vorsicht vorgegangen wurde, war es nicht gelungen, die Wurzeln vollständig zu erhalten. Oberbaurat Schmidt und Gemeinderat Khunn hatten dafür gesorgt, dass der Baum der Windrichtung nach genau dieselbe Stellung einnahm, wie er es auf dem Dom gewöhnt war. Verantwortlich für die Birke war ab nun der Gartendirektor Siebeck der sich mit besonderer Sorgfalt dem neuen Schützling widmete.

Der Gartendirektor konnte sich noch so viel Mühe geben, dem Neuling schien die derzeitige Umgebung nicht zu behagen. Langsam siechte sie dahin ein Zeichen, wie sehr sie unter der Veränderung litt. Die Dom-Birke zählte zur Art „Hängebirke“ wurde plötzlich in einen üppigen Boden versetzt und unter dem Einfluss einer ungewohnten Wassermenge noch weicher die Struktur der Zweige. Es ist bedauernswert, so die Morgenpost, dass unsere städtischen Garten Organe bereits bei der Bepflanzung der Ringstraße, bewiesen, dass sie keine Kenntnis der Pflanzen-Physiologie besitzen. So hätte man sofort wissen müssen, dass die Birke einen trockenen Boden benötigt hätte. Aber so musste sie zugrunde gehen wegen der Unkenntnis der Pfleger.

QUELLE: Illustrierte Wiener Extrablatt , 19. Juni 1877, S 4, ANNO Österreichische Nationalbibliothek