GERHART HAUPTMANNS BRIEF#
Wie die Sozialdemokratische Korrespondenz berichtet, wird die heutige Arbeiter Zeitung einen Brief des großen deutschen Dichters Gerhart Hauptmann an den amtsführenden Stadtrat Professor Dr. Julius Tandler veröffentlichen.
In dem aus Rapallo vom 19. Dezember 1929 datierten Brief heißt es:
„Hochverehrter Herr Stadtrat!
In den Berufen, die wahrhaft befriedigen müssen gehört der Ihre. Achtbar für Sie und andere, üben Sie humanitäre Wirkungen höchsten Grades aus. Gewiss liegt auch hier Theorie zugrunde aber nur, soweit sie wahrhaft in Praxis umzusetzen ist. Alle Art von Begriffsspielerei, Pfafferei und Lehrerdogmatik, kurz alles Scholastische, bleibt von Ihrem Wirken ausgeschlossen. Es war ein bedeutungsvoller Morgen, als Sie uns in Ihren Arbeitskreis Einblick nehmen ließen. Was kann es Schöneres! - ich sage im Sinne Platos: Schöneres! - geben, als den Augenschein wahrer Sozialreform.
Ich konnte, so deutlich wie selten, erkennen, dass sich aus der undurchsichtig brodelnden Flusstrübe der Zeit in aller Stille groß Allerwertvollstes auskristallisiert etwas, bei dessen Betrachtung Skepsis zum Unding wird. Und das hat meinem wankenden Fortschrittsglauben Halt gegeben. Sie müssen mir schon verzeihen, wenn ich das Erlebte auf mich beziehe: geschieht es doch nur, um es an seinem Ort voll zu würdigen. Und Sie müssen wir weiter vergeben, wenn ich Ihnen nicht mehr sage, als Sie selbst wissen, ja, wenn ich Ihnen weniger sage. Denn wie könnte ich auf einem Gebiet, in dem Sie mit Kopf, Herz und Hand zu Hause sind, wo Werke, deren Segen für die Menschheit unabsehbar ist, für Sie zeugen, in anderem Sinne mitsprechen! Das Schicksal hat Sie an einen beneidenswerten Platz gestellt und hat Ihnen eine beneidenswerte Kraft gegeben, schwere, aber im höchsten Grade lohnende Pflichten, selbst gesetzte zum Teil, zu erfüllen: ein Los, dessen sich nicht leicht jemand rühmen kann.
Was ich an Ihren Grundsätzen und deren Wirkungen als besonders fruchtbar und wertvoll empfinde, ist, dass Sie nicht nur auf einen platten Nutzen abzielen, sondern auf eine Form, Sie suchen den Menschen im Kind, im Knaben, im Mädchen, nicht nur, ich möchte sagen, zu einer brutalen Gesundheit zu verhelfen, sondern Sie suchen, ihn zu bilden. Dies geschieht nicht auf komplizierte, sondern auf einfache Art mit Hilfe von Mitteln, die dem Kind angemessen und willkommen sind. Sie machen mit dem Gedanken ernst, wahre Zivilisation allgemein durchzusetzen.
Die Wohlfahrtseinrichtungen Wiens, soweit ich sie unter Ihrer Leitung kennengelernt habe, scheinen mir musterhaft und berufen. Schule zu machen. Nur Bescheidenheit verhindert mich, zu sagen: Sie seien bestimmt, Schule zu machen, berufen und seien musterhaft! Ich bin bei unserem gemeinsamen Rundgang aus dem Staunen und der inneren Freude über das Gesehene nicht herausgekommen. Was hier wächst, Blätter, Blüten und Früchte treibt, wurzelt im Boden reiner Menschlichkeit. Ich sage getrost: das ist das besonders Beglückende.
Mit diesen Empfehlungen von meiner Frau und nochmaligem, nachträglichen Dank Ihr ganz ergebener Gerhart Hauptmann“
QUELLE: Der Tag, ÖNB
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