MÄDCHENERZIEHUNG#
1914: Im modernen Staatsleben mit seinen höchst verwickelten Einrichtungen kam es den Frauen zum Bewusstsein, dass sie ebenso wie die Männer ihren Platz ausfüllen, dass sie Arbeit leisten müssen, um den Staat zu erhalten. Zum Wohle des Staates beizutragen und am Staatsleben nicht teilnehmen zu dürfen, weil er nach althergebrachter fremder Sitte die Bildungsmittel nur für die männliche Jugend vorbehalten hat, ist, gelinde gesagt, nicht zeitgemäß. Ein Staat, der die Frau als ein dem Mann ebenbürtiges Wesen ansieht, wird auch die Mittel schaffen, um den Töchtern seines Landes eine Erziehung zu geben, die nicht nur Herz und Charakter bildet, sondern auch die heranwachsende Jugend in gehöriger Weise für den Lebenskampf vorbereitet. Es ist der Zweck der folgenden Zeilen festzustellen, dass im Altertum und im Mittelalter der Bildung des weiblichen Geschlechtes gar keine oder wenig Beachtung geschenkt wurde und dass es erst der neuesten Zeit vorbehalten war, nach und nach die Ideen einer höheren Mädchenbildung verwirklicht zu sehen.
Der Orient ist die Wiege des Patriarchat, der unumschränkten Herrschaft des Mannes. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Patriarchat hielt die Entwicklung der Sklaverei gleichen Schritt. Patriarchat und die mit ihm eng verbundene Sklaverei hatten eine immer tiefer gehende Demütigung der Frau zur Folge, so dass im Orient die Frau von ihrer einstigen Würde herabsank. Es ist klar, das bei den orientalischen Völkern, bei denen die Frau so tief unter dem Man stand, von einer beabsichtigen und systematisch geordneten Erziehung des weiblichen Geschlechts nicht die Rede sein kann. Eine einzige Ausnahme unter den Völkern des Orients bildete das Volk Israel. Die Rabbiner haben in jeder Stadt Israels Schulen gegründet, die beiden Geschlechtern zugänglich waren, so dass auch die Mädchen mit den Kulturerrungenschaften ihres Volkes vertraut wurden.
Das benachbarte Volk der Hellenen, welches die höchsten Kulturstufe im Altertum erklommen hat, leistete für die Erziehung der Mädchen so gut wie gar nichts. - Es gibt Stimmen, die behaupten, dass an dem Niedergang und gänzlichen Verfall des hochentwickelten hellenischen Lebens die völlige Unbildung der Frau die Hauptschuld trage. - Die Hellenen haben in der Tat die Wahrheit des Satzes bewiesen: „Ein Volk steht so hoch, als seine Frauen stehen!“
Die Römer ließen sich die Ausbildung der weiblichen Jugend auch nicht angelegen sein. Die römische Frau war gerade so ungebildet wie die griechische. - Allerdings muss man von vereinzelten Ausnahmen absehen, die jedoch für die Allgemeinheit nichts zu bedeuten haben. - Auch bei den Griechen und Römern herrschte das eigentümliche System der Sklaverei und es nicht zu leugnen, dass die Sklaverei die Hauptursache an der tiefen Stellung der Frau bei diesen sonst hochgebildeten Völkern ist.
Die nordischen Völker Europas, unter diesen vornehmlich die Germanen kannten keine Sklaverei und keine Demütigung der Frau, Die germanische Frau war dem Mann ebenbürtig und das germanische Mädchen wurde in den Kulturbedürfnissen seines Volkes und seiner Zeit gerade so unterwiesen wie der germanische Knabe. Allein die auf nationaler Grundlage beruhende Erziehung der germanischen Jugend nahm ein frühzeitiges Ende, da mit dem Eindringen des Christentums in deutsche Lande auch eine fremde Kultur mit eingedrungen ist. Unter den Beilhieben des Mönches Winfried Bonifazius genannt – fiel die deutsche Eiche und mit ihr auch die damalige deutsche Kultur. Auf den stehen gebliebenen Eichenstumpf wurde ein fremdes Reis gepfropft.
In den deutschen Städten, in denen das Christentum Eingang fand, wurden Gotteshäuser – Kirchen – errichtet und neben diesen Schulhäuser erbaut. An dem Unterricht nahmen Knaben und Mädchen teil. Die einzige Wissensquelle in den ersten Jahrhunderten bildete die Bibel. Diese Quelle kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie noch heute fließt.
Die deutsche Frauenwelt erwies sich dem Christentum zugänglicher, sie nahm es leichter und inniger auf als die deutsche Männerwelt. Diese widerstand der Aufnahme der neuen Bildung länger, aber schließlich gelangte doch in deutschen Landen das Christentum mit Hilfe der Frau zum allgemeinen Durchbruch. Dieser Einfluss der Frau ist von weltgeschichtlicher Bedeutung. Die Träger der neuen Kultur, die Priester und Nonnen erkannten die Hilfe der Frau, sie wussten sie zu schätzen und zu würdigen. Daher war ihr Hauptaugenmerk darauf gerichtet, die Frauen der Vornehmen zu gewinnen. Gelang es ihnen, so war es eine natürliche Folge, dass deren Töchter im Sinne der neuen Lehre erzogen wurden. Die Bildung, welche die Mädchen genossen, wurde in allem und jedem in Zusammenhang mit der Kirche gebracht. Das vornehmste Bildungsmittel war das alte und neue Testament.
Das aus der Provence kommende Rittertum hat seinen Siegeszug durch ganz Deutschland gefeiert und gelangte hier zur größten Blüte. Die größtenteils weltliche Anschauung der Ritter, brachte auch eine Verweltlichung der Mädchenerziehung mit sich. Die Frauen standen im Mittelpunkt der Gesellschaft und die Mädchen wurden nicht selten an einem Fürstenhof „höfisch“ erzogen. Sie lernten neben Nähen und Sticken auch das Harfen- und Geigenspiel, wurden im Lesen und Schreiben unterwiesen, übten Gesang und Tanz und mussten auch in der Dichtung ihrer Zeit bewandert sein. Die patriarchalischen Anschauungen aus dem Orient, verknüpft mit dem Rittertum hatten zur Folge, dass die weibliche Jugend zur Zierde und zum Schmuck der Rittersäle erzogen wurde. Hier beginnt das Übel aller späteren Mädchenerziehung zu keimen, ein Übel, an dem sie noch heute leidet.
Das Rittertum verschwand und an seine Stelle trat das strebsame und erwerbende Bürgertum. Mit diesem begann die Ära der allgemeinen Schulbildung. Wissen wurde zum Losungswort. Jedoch in Bezug auf die geistige Bildung des weiblichen Geschlechtes übernahm das Bürgertum die böse Erbschaft des schwindenden Rittertums. Die Mädchen wurden von der höheren Bildung ausgeschlossen, weil man die Meinung vertrat, dass die Frau des Wissens nicht bedürfe. Von daher rührt die Kluft zwischen Erziehung der beiden Geschlechter und ihren geistigen Welten, die heute zwar schon zum Teil überbrückt, aber noch nicht aufgehoben ist. Man errichtete nämlich nur höhere Bildungsanstalten für Knaben und die Mädchen mussten mit dem Elementarunterricht vorlieb nehmen; dazu kam noch, dass man auf die Mädchenschulen verächtlich herabsah. Dafür gefielen sich die Mädchen nach wie vor in der Pflege eitler und nichtiger Dinge. Es ist sehr charakteristisch, festzustellen, dass zu jener Zeit bereits Männer auftraten, die erkannten, dass die bestehende Mädchenerziehung in das deutsche Bürgertum nicht mehr herein passe. So empfiehlt Erasmus von Rotterdam eine ähnliche wissenschaftliche Bildung der Mädchen, wie sie bei Knaben schon bestand, zur Erhaltung eines edlen, keuschen Sinnes und als Mittel gegen den Müßiggang. Noch deutlicher spricht sich Vives aus: „Die mangelnde Bildung allein ist die Ursache, dass alle Frauen putzsüchtig, auf alberne Äußerlichkeiten erpicht, im Glück übermütig im Unglück vollkommen ohne Halt, überhaupt ganz unverträglich und widerwärtig sind; sie haben nichts gelernt, und das sie besitzen, sind die vererbten Vorurteile ungebildeter Mütter“. Dieser Satz gibt gibt einen wahren Spiegel der damaligen Mädchenerziehung. Wie unter den griechischen und römischen Frauen fand man auch unter den deutschen Frauen Ausnahmen, die aber, hier wie dort, in ihrem Kreis blieben, ohne für die allgemeine Frauenbildung etwas zu leisten.
Nach der Reformation war es wieder die Kirche, deren Eifer für die Mädchenbildung sich neu entfaltete, weshalb die weibliche Klosterbildung wieder zur Geltung kam. Die protestantischen Stände ahmten das Beispiel nach und gründeten für ihre Töchter ebenfalls neue Schulen, in welchen diese eine höhere Bildung genossen. Die neu aufblühende Mädchenbildung ging aber im 30jährigen Krieg völlig unter. Was nach demselben von ihr übrig blieb, hatte den völkischen Boden verlassen, ist undeutsch geworden und holte sich die Vorbilder aus Frankreich, welches vom 30jährigen Krieg verschont geblieben war. Französische Erzieherinnen polierten an der deutschen Mädchenjugend herum und auch die deutsche Frau ließ sich aus Unwissenheit von dem hohlen Scheinwesen einer fremden Glanzbildung blenden. Die Erziehung der deutschen Mädchen durch die Gouvernanten war nichts anderes als eine Glanzbildung.Die weibliche Jugend der besseren Stände sollte in einer ebenso eitlen als oberflächlichen Gesellschaft mit einigen französischen Brocken prunken. Im übrigen erwacht dadurch der Geist des bereits ausgestorbenen Rittertums bei der deutschen Mädchenjugend aufs neue. Es entstanden nach französischem Vorbild in den deutschen Städten viele Mädchenerziehungsanstalten, sogenannte höhere Töchterschulen, in welchen die Mädchen über das Maß der Pfarrschule unterrichtet und auch im nationalen Geist erzogen wurden. Es muss zur Ehre und zum Ruhm der deutschen Städte mit ihrem Gewerbe fleißigen Bürgertum festgestellt werden, dass sie die ersten waren, welche den Wert einer höheren Frauenbildung erkannt haben.
An den höheren Töchterschulen genossen die Mädchen vorwiegend eine Unterricht in den schöngeistigen Fächern. Man hat in diesen Schulen das Hauptgewicht auf die Gefühls- und Gemütsbildung gelegt, ganz im Gegensatz zu den Knabenschulen, wo das Streben dahin ging, ihnen eine Kraftbildung, die sie für die verschiedensten Berufe befähigt, angedeihen zu lassen. An den Lehranstalten für die männliche Jugend herrschte das Wissen, an denen für die weibliche Jugend die Gemütsbildung vor.
Die Kraftbildung des Mannes hatte zur Folge, dass durch immer ausgedehntere und tiefere Forschungen das menschliche Wissen zu einer nie geahnten Höhen emporstieg. Die Errungenschaften der Technik wurden für die menschliche Gesellschaft der Ausgangspunkt neuer Anschauungen, welche die alten Begriffe auch in Bezug auf die Stellung der Frau , zunichte machte.
Die durch die Technik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hervorgerufene Umwälzung im wirtschaftlichen Leben stellte die Frau vor neue Lebensbedingungen und neue Aufgaben. Es traten zwei neue Probleme auf: das Problem der Frau und das Problem der Arbeit. Letzteres ist nichts Neues, das hat sich in der Geschichte seit den ältesten Zeiten oftmals wiederholt, ohne dass man jemals eine befriedigende Lösung dafür gefunden hätten.
Ganz anders jedoch verhält es sich mit dem Problem der Frau. Das ist etwas ganz Neues, war in der Geschichte noch nicht da, hat eine natürliche Grundlage und kann bei fortschreitender Entwicklung einer gedeihlichen Lösung zugeführt werden. Natürlich ist es mit den alten Methoden bei der Mädchenerziehung vorbei; sie passen in die Gegenwart nicht mehr hinein und mit ihrer Hilfe kann die Frauenfrage nicht gelöst werden. Das erste was bei der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse als neue Anforderung an die Frau herantrat, war, dass sie erkannte, dass sie mit der bisherigen Gemütsbildung mit ihren unbestimmten Werten in dem Wettbewerb einfach nicht mittun, das heißt, den Lebenskampf nicht aufnehmen könne. Was die Frauen verlangen ist ganz vernünftig. Sie verlangen nichts weniger als die Rechte großjähriger Wesen, das Recht auf Bildung und auf Arbeit. Das ist ein Gebot gewöhnlicher Menschlichkeit und dieses soll vor dem Unterschied der Geschlechter stehen! Die alten Vorurteile, dass die Frauen weniger intelligent und zur Arbeit weniger tüchtig wären, sind unrichtig und werden durch Tatsachen aus neuester Zeit widerlegt. Nachdem nun die geänderten wirtschaftlichen Verhältnisse die Frauen gelehrt haben, dass sie weder an Intelligenz, noch an Arbeitsleistung dem Mann nachstehen, so verlangen sie für die weibliche Jugend neben der Geschäftsbildung, eine der männlichen Jugend ebenbürtige Kraftbildung, die sie befähigt, die verschiedensten Berufe zu ergreifen. Es gibt auch schon einsichtsvolle Männer genug, die es als ein Gebot der Gerechtigkeit gegen das weibliche Geschlecht ansehen, dass den Mädchen eine der Geistesrichtung des Mannes gleichwertige Bildung ermöglicht werde. Das ist das Ziel der modernen Ftauenbewegung-
Es lässt sich nicht leugnen, dass die Frauenfrage bereits greifbar Fortschritte gemacht hat. Es werden Mittelschulen ins Leben gerufen, an denen die weibliche Jugend eine wissenschaftliche Ausbildung erlangt. Es muss abermals rühmend hervorgehoben werden, dass es vornehmlich die deutschen Städte sind, die solche Mittelschulen für die Mädchen schaffen. Der Staat lässt auch Mädchen am Unterricht an Knabenmittelschulen teilnehmen und gestattet den wissenschaftlich vorgebildeten Mädchen den Zutritt zu gewissen Fächern der Hochschule. Ein viel verheißender Anfang ist also gemacht und es ist berechtigte Hoffnung vorhanden, dass die Frauenfrage in absehbarer Zeit eine gedeihliche Lösung finden wird. Es können schon jetzt die vorgebildeten Mädchen verschiedene Berufe ergreifen. Das moderne Streben der Mädchen nach einem Beruf ist eine ganz natürliche Entwicklung und weil sie in der Natur gelegen ist, kann sie auch nicht aufgehalten werden. Das große Ziel der Frauenbewegung ist kein anderes, als zur Natur zurück zu kehren. Frauenemanzipation im, vernünftigen Sinn des Wortes ist die Emanzipation von den alten in Europa überlebten Anschauungen des Orients in Bezug auf die Frau. Die künftige Stellung der Frau, wenigstens in Westeuropa, ist die Frage, die nicht nur naturgeschichtlich, sondern auch soziale Fragen in sich schließt, Fragen von allergrößter Bedeutung, deren Beantwortung der weiteren Entwicklung der Frauenfrage vorbehalten bleiben muss. Soviel kann man aber schon jetzt sagen, dass sie im westeuropäischen Sinn gelöst werden wird.
QUELLE: Jahresbericht Kaiser Franz Josephs Mädchen Lyzeum der Stadt Znaim 1914 Hauptteil S 1, ANNO Österreichische Nationalbibliothek
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