SELBSTMORDE#

Krise
Antiquitäten

Mit dem New Yorker Börsencrash am 24. Oktober 1929, auch als schwarzer Donnerstag in die Geschichte eingegangen, wurde eine der größten Wirtschaftskrisen eingeläutet die sich bis in die 30er Jahre fortsetzte und verheerende Auswirkungen für so manchen angesehenen Unternehmer hatte, die keinen anderen Ausweg als den Freitod zu wählen. Auch der „Abend“ hatte einen solchen Fall zu melden: „Doppelselbstmord eines Ehepaares“: Nach einer Polizeimeldung wurde heute früh der 56jährige Kaufmann Kommerzialrat Robert Politzer und seine 54 jährige Gattin Ida in ihrer Wohnung in Wien 3. Bezirk, Strohgasse 13, vergiftet tot aufgefunden.

Kommerzialrat Robert Politzer betrieb mit seinem Bruder Rudolf Politzer seit vielen Jahren in der Weihburggasse ein großes Antiquitäten, Gold- und Silbergeschäft und galt bis in die letzten Jahre als äußerst vermögender Mann. Er bewohnte mit seiner Frau in dem Haus Strohgasse 13 den ganzen ersten Stock. Die Wohnung war mit Bildern antiken Möbeln und wertvollen Kunstgegenständen reich ausgestattet. In der letzten Zeit müssen geschäftliche Schwierigkeiten, namentlich der wesentliche gesunkene Absatz in der Antiquitätenbranche, das Ehepaar in schwere finanzielle Kalamitäten versetzt haben. Kommerzialrat Politzer sah sich gezwungen, Teile des Mobiliars, Bilder und Antiquitäten zu veräußern.

Im Sommer soll Frau Politzer bereits einen Selbstmordversuch unternommen haben. Sie wurde damals mit einer schweren Leuchtgasvergiftung in der Badewanne betäubt aufgefunden, konnte jedoch noch ins Leben zurück geholt werden. Der Vorfall wurde damals offiziell auf unvorsichtige Hantierung mit dem Gashahn zurückgeführt.

Das Ehepaar hat zwei Töchter – die eine Tochter ist in einer Gersthofer Privatanstalt als Röntgenschwester tätig, die andere lebt ständig in Paris und hat erst vor einigen Tagen ihre Eltern besucht. Die beiden müssender Tochter keine Mitteilung über ihre verzweifelte Situation gemacht haben, da diese sich erst gestern Abend von ihren Eltern verabschiedete und nach Paris zurück reiste.

Eine Bedienerin. die früher in besseren Tagen bei Kommerzialrat Politzer als ständige Hausgehilfin tätig war und im selben Haus wohnt, versuchte heute früh Einlass zu bekommen, um die Wohnung aufzuräumen. Sie wurde durch die vorgelegte Sperrkette am Öffnen der Türe verhindert, und man holte einen Schlosser, der die Sperrkette durchfeilte.

Bereits im Vorzimmer merkte man intensiven Leuchtgasgeruch. Als man in die Küche kam, fand man Kommerzialrat Politzer und seine Frau auf zwei Ottomanen leblos auf. Kommerzialrat Politzer saß vornüber gebeugt, seine Gattin lag auf dem Sofa. Die beiden hatten zwei Gasschläuche in den Händen, die mit Spagatschnüren an den Arm gebunden waren, um ein Herabgleiten zu verhindern.

Auf dem Küchentisch lag ein Abschiedsbrief, der an die in Gersthof tätige Tochter des Ehepaares gerichtet ist und von von der Polizei bisher nicht geöffnet wurde.

Aus den Angaben von Hausbewohnern und der Bedienerin geht zweifellos hervor, dass die beiden Leute in der letzten Zeit im drückendsten Elend lebten, ohne jedoch ihre verzweifelte Situation merken zu lassen. Sie bezahlten pünktlich die beträchtliche Miete für ihre große Wohnung und suchten angestrengt den Schein des Wohlhabenheit zu wahren. Im übrigen wird berichtet, dass Kommerzialrat Politzer reiche Verwandte hatte, an die er sich hätte wenden können, was er anscheinend aus dem Schamgefühl der Verarmten heraus vermieden hat.

Da dieser Mann scheinbar in Wien eine bekannte Persönlichkeit gewesen sein musste, hatten alle namhaften Journale darüber berichtet so auch die „Stunde“: “Doppelselbstmord im Botschafterviertel“ …...Kommerzialrat Politzer, ein in Kreisen der Wiener Kunst- und Antiquitätenhändler sehr angesehener Mann unterhielt in der Inneren Stadt, im Haus Weihburggasse 14, ein Büro, in dem er zeitweise ziemlich umfangreiche Transaktionen abwickelte. Schon vor Jahren hatte er den Kontakt mit dem Dorotheum gefunden; die Zusammenarbeit mit diesem Institut gestaltete sich immer intensiver und schließlich wurde Kommerzialrat Politzer ständig mit den Durchführungen der „gemischten Auktionen“ im Franz Josephs Saal betraut. Dabei hatte er Gelegenheit, sein ausgezeichnetes Organisationstalent voll zur Geltung zu bringen. Im Dorotheum, sowie bei der privaten Kundschaft, die seine Dienste sehr gerne in Anspruch nahm, galt Kommerzialrat Politzer auch bis in die letzte Zeit als sehr vermögender Mann.

Seit etwa 15 Jahren bewohnte Kommerzialrat Politzer in der Strohgasse eine mit viel Geschmack eingerichtete Vier-Zimmerwohnung. Er war Vater von vier Töchtern, von denen eine in Paris mit dem dort lebenden ungarischen Maler Aranyi verheiratet ist. Wie alle Jahre, so kam auch heuer diese Tochter zu ihren Eltern auf Besuch und blieb hier bis zum gestrigen Tag. Allem Anschein nach hatte das Ehepaar Politzer die Ausführung seiner Selbstmordsabsichten bis zur Abreise des Kindes verschoben. Im Laufe des Abends schrieben Kommerzialrat Politzer und seine Frau mehrere Abschiedsbriefe. Diese Schriftstücke sind im Augenblick noch nicht eröffnet, vermutlich werden sie eine Aufklärung der Gründe des Doppelselbstmordes bringen. Auch die „Krone“ griff dieses Thema auf und berichtet darüber: Zwei Menschen, einst in allen Gesellschaftskreisen bekannt und geschätzt, vom materiellen Glück begünstigt, im Überfluss aufgewachsen und an ihn gewöhnt, zwei Menschen, denen das Leben durch Jahrzehnte nichts als Freude und Schönheit gebracht, haben sich selbst den Tod gegeben. Nein doe Not klopfte nicht an ihre Türe, der Hunger saß noch nicht als ungebetener Gast bei Tisch und trotzdem wollte das Ehepaar nicht mehr kämpfen. Den größten Teil ihres Lebens verbrachten sie im Glanz gesellschaftlicher und künstlerischer Geltung, sie konnten den Gedanken nicht ertragen, dass es nicht mehr so sein sollte, wie es einst gewesen. Die Tragödie des Ehepaares wirft aber zugleich ein grelles Schlaglicht auf den Niedergang eines einst blühenden Geschäftszweiges des Antiquitätenhandels, der gerade auf Wiener Boden früher Weltruf genoss. Es ist beinahe, als wäre in der heutigen Zeit mit ihren Modetorheiten, mit ihrer steten Hetzjagd nach dem Neuesten kein Platz mehr für ein Gewerbe, dessen vornehmste Aufgabe in der Erhaltung des schönen Alten liegt. Die allgemeine Krise hat in den Kreisen der Wiener Antiquitätenhändler besonders schlimm gewütet, es dürfte kaum eine zweite Branche geben, die unter den Stürmen der neuen Zeit so viel und so schwer gelitten hat.

Robert Politzer, der ein Alter von 56 Jahren erreichte, hat das Antiquitätengeschäft in der Weihburggasse von seinem Vater übernommen. Er gehörte also zu den erbeingesessenen Mitgliedern dieser Branche und genoss als Kaufmann und Sachverständiger das aller größte Ansehen. Der Kaufmann, der mit seiner Gattin in glücklichster Ehe lebte, hatte großen gesellschaftlichen Verkehr und konnte, so lange sein Geschäftszweig blühte, ein luxuriöses Leben führen. Die Vierzimmerwohnung in der Strohgasse 13, im Botschafterviertel, war mit verschwenderischer Eleganz ausgestattet.

Seine Firma, eine der ersten ihrer Branche auf dem Wiener Platz, genoss Weltruhm, während der Konjunkturjahre ging das Geschäft ausgezeichnet. Nach dem Krieg waren noch sehr gute Geschäfte zu machen. Doch langsam stagnierte die Branche, die bis heute anhielt. Die neue Wohnkultur, die Geldknappheit brachten es mit sich, dass eine alt bekannte Firmen nach der anderen zugrunde ging. Kommerzialrat Politzer gab den Kampf nicht sogleich auf und stellte sich um, kaufte Biedermeierstücke auf und nach entsprechender Restaurierung dem Dorotheum zum Verkauf oder zur Versteigerung überlassen. Einige Zeit ging das gut, doch allmählich setzte der Existenzkampf ein. Von den 400 Antiquitätenhändler Wiens blieben nur vierzig übrig. Sie sind entweder ausgewandert oder haben einen anderen Beruf ergriffen. Politzer konnte sich zu keinem dieser Auswege entschließen. Sie mieden bereits Gesellschaften und zogen sich immer mehr zurück. Er hätte bestimmt Hilfe erhalten, wenn seine drei Brüder etwas erfahren hätten, sie besaßen gut gehende Juweliergeschäfte in der Stadt. Gerade fremde Hilfe wollte das Ehepaar nicht in Anspruch nehmen.

Ein Jahr später, am 25. Februar 1935 ereignete sich ebenfalls ein Selbstmord. Der „Morgen“ berichtete darüber: In der Nacht auf Sonntag hat sich der 60jährige ehemalige Fabrikant Dr. Richard Politzer in der Wohnung seiner geschiedenen Gattin in der Gentzgasse mit Leuchtgas vergiftet. Obwohl der Selbstmord bereits nach einer halben Stunde entdeckt wurde, konnte Dr. Politzer nicht mehr gerettet werden.

Dr. Politzer stammt aus einer wohlhabenden Wiener Familie. Sein Bruder ist der bekannte Frauenarzt Medizinalrat Dr. Karl Pronay. Dr. Politzer selbst hatte gemeinsam mit einem Herrn Schrötter die Tinten- und Siegellackfabrik Andreazzi in der Wickenburggasse geführt, die aber 1925 zugrunde ging.

Knapp nach dem Krieg hatte Dr. Politzer geheiratet. Die Tochter eines Beamtes des kaiserlichen Hofes, die bereits einen Sohn hatte. Sie gebar ihm ebenfalls eine Sohn, Roul, den er über alles liebte. Die Ehe selbst war nicht glücklich, weshalb sich das Paar trennte. Dr. Politzer zog zu seiner alten Schwester in die Hietzinger Hauptstraße. Jeden Mittwoch und Samstag besuchte Dr. Politzer, der sich zu dieser Zeit mit schriftstellerischen Arbeiten fortbrachte, seinen Sohn.

Auch diesen Samstag kam er zu seinem Sohn in die Gentzgasse. Die Frau die im Deutschen Volkstheater als Statistin auftrat, war im Theater. Gegen halb neun Uhr abends gab Dr. Politzer seinem Roul zehn Schilling für die Mutter und schickte ihn ins Kino.

Eine halbe Stunde später entdeckte die Hausbesorgerin den Selbstmord. Polizei und Rettungsgesellschaft stellten Wiederbelebungsversuche an, die aber erfolglos blieben.

QUELLE: Verschiedene Zeitungen der ÖNB

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